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Anarchie, Anarchie! Ich stelle mir vor, wie Gérard Genette, der Großmeister der Erzähltheorie, ob Alessandro Bariccos neuem Roman »Die Junge Braut« (Hoffmann & Campe) reagiert hätte. Hätte er applaudiert? Hätte er ein leises ‚tztztz‘ gezischt? Man hätte vorgewarnt sein können, denn Baricco lehrt an einer eigens von ihm gegründeten Schule ‚Kreatives Schreiben‘.
Der novellenartige Roman Seide (1996) machte Alessandro Baricco weit über die Grenzen Italiens hinaus bekannt. Die Herzen der Italiener hatte er bereits mit dem zuvor erschienen Roman Land aus Glas(1991) erobert. Tatsächlich stehen die meisten Bücher aus der Feder von Baricco in meinem Bücherregal. Direkt neben Boccaccio. Die Lektüre von Boccaccio erfordert eine leichte Anstrengung der, um es mit Hercule Poirot zu sagen, „kleinen grauen Zellen“, anders als bei Baricco. Gleich ob man mit Hervé Joncours (dieser Name!) in Seide nach Japan reist, oder mit Danny Boodman T.D. Lemon Novecento in Novecento die Ozeane dieser Welt überquert, Bariccos anmutige und elegante Sprache gleitet ruhig und melodisch dahin. Eine angenehme Fahrt. Keine erzähltechnischen Eisberge, die das Schiff zum Kentern bringen könnten, kein Sand im Getriebe, keine besonderen Vorkommnisse. Bis jetzt. In Die junge Braut ist mit der literarischen Hypnose Schluss. Aufmerksamkeit ist gefragt oder es droht ein mittelschweres Desaster.
Die Geschichte der jungen Braut ist scheinbar rasch erzählt: Die Hochzeitsglocken sollen läuten, doch der Bräutigam ist (und bleibt) unauffindbar. Die junge Braut wartet stoisch. Sie bleibt bei der Familie des verlorenen Sohnes und lernt, so der Klappentext, „das eigene Schicksal zu bestimmen.“

Eine Familie, die man nie wieder vergisst

Typisch Baricco, ist das Personal seines Romans mit schrulligen und skurrilen Eigenarten gespickt. Da ist der Vater, der gar nicht der Vater ist und unter einem, man möchte sagen, geradezu romantischen Herzfehler leidet. Die hinreißend schöne Mutter, deren Syllogismen „unergründlich“ sind. Die schöne Tochter, die jedoch hinkt. Und Modesto, der Diener der Familie, der durch ausgeklügelte Räusper-Laute, unmerklich für die Besucher des Hauses, wohl aber für die Herrschaften, in einer Art Geheimsprache kommunizieren kann. Die Familie teilt eine große Angst: die Nacht. Denn „seit einhundertdreizehn Jahren, das muss erwähnt werden, sind in unserer Familie alle nachts gestorben.“
Die Szenerie ist ganz Baricco. Die Figuren schräg, aber unheimlich sympathisch, wenn nicht gar liebenswert. Ganz der gute, alte Baricco. Doch dann. Abrupt und – zu Beginn gänzlich unerwartet – wechselt die Erzählstimme. Ich gebe es zu, das sorgte für einige Verwirrung meinerseits. Ein Beispiel:
Das Gegengewicht zur ausweichenden Antwort bildete die Türglocke, der alle mäßige Aufmerksamkeit schenkten, da es sich nur um den zigsten Besucher handeln konnte. Um die Angelegenheit kümmerte sich Modesto. Er öffnete trotzdem und sah die junge Braut vor sich. Sie wurde an diesem Tag nicht erwartet, oder vielleicht doch, aber man hatte es vergessen.
Ich bin die junge Braut, sagte ich.
Bitte? ‚Ich bin die junge Braut, sagte ich‚? Wer ist ich? So flugs wie dieser Wechsel kam, so flugs geht es zurück zur ursprünglichen Erählerstimme. Ein anderes Mal ist das jenes ominöse „Ich“ nicht die junge Braut, sondern die sterbenskranke Großmutter. Und so fort. Spaltet sich hier ein Leben auf? Wird hier eine Geschichte, ein Leben, erzählt, verteilt auf unterschiedliche Figuren, besehen aus unterschiedlichen Perspektiven? Das mysteriöse „Ich“ gewinnt im Fortgang der Erzählung mehr und mehr Kontur, sein Raum wird größer, der Spielraum erweitert sich. In gewisser Weise ermöglicht Baricco einen Einblick in den Schreibprozess. Die besondere Form des Romans ermöglicht das Einstreuen von Reflexionen und Anemerkungen die Erzähltechnik und den Inhalt betreffend.
Apropos Inhalt: Mit jeder Seite wird Die junge Braut geheimnisvoller, Sehnsüchte und Ängste werden offenbar. Der Roman hat eine tiefere, dunklere Note als seine Vorgänger. Dazu passend:
Warum so viel Sex?
Was meinst du?
In dem Buch, so viel Sex.
In meinen Büchern gibt es fast immer Sex.
Ja, aber das hier ist zwanghaft.
Meinst du?
Einige Stellen sind dabei durchaus geeignet dem Leser einen, sagen wir, frischen Teint zu verpassen. Gab es Sex in den früheren Romanen von Baricco? Ich erinnere mich nicht. Wenn ja, dann jedoch sicher nicht in diesem Ausmaß. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade darum: Unbedingt lesen, lautet mein Fazit. Ich habe Die junge Brautverschlungen und mich jeden Abend aufs Weiterlesen gefreut. Dennoch: Auf die Frage, ob der Roman vollkommen gelungen ist, mag ich keine bestimmte Antwort zu geben. Rein formal betrachtet, herrscht zwischen den dunkelvioletten Buchdeckeln einfach Anarchie. Und ich wüsste zu gern, was Monsieur Genette dazu gesagt hätte.
DIE JUNGE BRAUT von ALESSANDRO BARICCO
Hoffmann und Campe. 208 Seiten. 20 Euro.
Gebunden mit Schutzumschlag.

Vielen Dank an den Hoffmann und Campe Verlag für das Rezensionsexemplar.
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